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Sei dankbar - immer!

Ich sitze in diesem Moment schreibend in der onkologischen Tagesklinik in Tübingen... Hier bin ich alle zwei Monate zur Nachbehandlung.

 

Seit über zwei Jahren weiß ich, dass ich Krebs habe. Eine Form des Krebses, der das Lymphsystem befällt und sehr aggressiv ist. Ein Krebs, der unbehandelt binnen Monaten zum Tod führt.

 

Meine Krankheit, mit der ich mich inzwischen arrangiert habe - arrangieren musste - einerseits und die Athmosphäre in einer onkologischen Klinik andererseits: Das ständige und sehr präsente Bewusstsein, eine schwere Krankheit zu haben. Viele teilweise todkranke und verzweifelte Patienten und Angehörige auf den Fluren und in den Behandlungszimmern. Geräte, die ständig akustische Alarme von sich geben, die der wartende Patient nur "wegdrücken" kann, weil sich oft niemand darum kümmert. Schicksale, die man eigentlich nicht mitbekommen möchte, zwangsläufig aber doch mitkriegt. Gestresste Krankenschwestern und Ärzte, die keine Zeit für die Sorgen ihrer Patienten haben. 

 

Auf den ersten Blick scheinbar keine guten Voraussetzungen und keine gute Kulisse um über das Thema Dankbarkeit zu schreiben. Und dennoch schreibe ich...

 

Die größte Lehre, die mir mein Krebs beschert hat, ist die der Dankbarkeit. Auch dieser Satz hört sich schräg, unglaubwürdig und skurril an - das gebe ich gerne zu.

 

Ich habe den Eindruck, dass vielen von uns Menschen in der westlichen Gesellschaft die Fähigkeit, dankbar zu sein, abhanden gekommen ist. Und es gibt so vieles für das wir dankbar sein können:

 

  • Dankbar für ein Dach über dem Kopf
  • Dankbar, dass wir nicht in Kriegsgebieten leben
  • Dankbar, dass wir täglich satt werden
  • Dankbar, dass wir Arbeit haben und Geld verdienen können
  • Dankbar, dass unsere Kindern selbstverständlich in die Schule gehen können
  • Dankbar, dass wir medizinisch bestens versorgt sind
  • Dankbar, dass wir nicht in typischen Gebieten für Naturkatastrophen leben
  • Dankbar, für funktionierende Sozialsysteme
  • Dankbar, für Grundrechte wie die freie Meinungsäußerung
  • Dankbar für so viele Sachen mehr...

 

Vieles ist selbstverständlich für uns geworden. DAS IST ES ABER NICHT. Wir nehmen es nur als selbstverständlich und gegeben an. Warum nur? Und selbst wenn wir es als gegeben sehen: Warum verdammt sind wir dann nicht dankbar dafür?

 

Stattdessen jammern viele Menschen. Sie jammern darüber,

 

  • dass sie beim Arzt eine halbe Stunde warten müssen
  • dass sie morgens aufstehen und zur Arbeit gehen müssen
  • dass der Nachbar das größere Haus hat
  • dass "die da oben eh machen was sie wollen"
  • dass ein Liter Milch 10 Cent teurer geworden ist
  • dass ihr Chef ein Ausbeuter ist, was man daran sieht, dass er ein größeres Auto fährt
  • dass sie keine Zeit für sich selbst haben.

 

Sie jammern über Dinge, die Hungernder, ein Obdachloser oder ein Kriegsflüchtling gar nicht verstehen würde. Sie jammern und bemitleiden sich selbst in einem Ausmaß, welches irgendwann womöglich in die selbst vorprogrammierte Depression führt.

 

Ich mag seit Jahren eine Weisheit besonders:

 

"Wenn Du Dich beklagst, wie schlecht es Dir geht. Mit wem vergleichst Du Dich dann?"

 

Bist Du auch ein Typ, der öfter unzufrieden ist? Dass er morgens zur Arbeit muss? Dass er beim Arzt warten muss? Dass der Nachbar das schönere Auto hat?

 

Versuche doch mal Folgendes: Schalte die "Tagesschau" oder sonst eine seriöse Nachrichtensendung ein. Siehe sie Dir bewusst an und stelle fest, wie verdammt gut es Dir geht. Die Berichte über Kriege, Hungersnöte, Diktaturen und Anschläge siehst Du Dir vom Sofa aus entspannt an... Werde endlich wach und stelle fest, wie glücklich Du über den Zufall sein kannst, in Deutschland geboren worden zu sein.

 

Reisen in ärmere Regionen der Welt öffnen oft die Augen. Wir stellen dabei oft zwei Dinge fest: Erstens geht es Milliarden Menschen deutlich schlechter als uns. Und zweitens sind viele von diesen Schlechtergestellten offenbar glücklicher, entspannter und dankbarer als wir!

 

Wie kann denn das sein?

 

Ich habe Krebs. Einen brutalen Krebs. Ich weiß nicht, wie lange ich dieser Krankheit standhalten kann.

 

Ich bin dankbar für jeden neuen Tag. Für jeden Tag ohne neue gesundheitliche Beschwerden. Für eine tolle medizinische Versorgung, ohne die ich wahrscheinlich schon tot wäre.

 

Was brächte es zu jammern? Es würde meine Situation nicht verbessern. Es würde vielmehr meine Stimmung derart negativ beeinflussen, dass es mir sehr wahrscheinlich schlechter gehen würde.

 

Deshalb: Ich habe mich entschieden, dankbar zu sein!

 

Es ist allein Deine Entscheidung. Probiere es einfach einmal aus...

 

 

Steffen

Tübingen, den 21.06.2018